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Das Europäische Reich

[ ein Beitrag von Giorgio Agamben ]

Milosz bemerkte einmal, dass die Situation der Schriftsteller des „anderen Europas“ (wie er Mitteleuropa nannte) für die Bürger der westeuropäischen Staaten „kaum vorstellbar“ sei. Ein Teil dieser Heterogenität ist darauf zurückzuführen, dass es keine Nationalstaaten gab und an ihrer Stelle jahrhundertelang, bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, das Habsburger Reich existierte. Für diejenigen von uns, die in einem Nationalstaat geboren wurden und nicht zwischen Italiener und italienischem Staatsbürger unterscheiden, ist es nicht leicht, sich eine Situation vorzustellen, in der Italienisch, Ungarisch, Tschechisch oder Ruthenisch zu sein keine staatliche Identität bedeutet. Die Beziehung zu Ort und Sprache war für die Bürger des Reiches sicherlich anders und intensiver, da sie frei von allen rechtlichen Implikationen und nationalen Konnotationen war. Die Existenz einer Realität wie des Habsburgerreichs war nur auf dieser Grundlage möglich.

Es ist gut, dies nicht zu vergessen, wenn wir heute sehen, dass Europa, das als Pakt zwischen Nationalstaaten gegründet wurde, nicht nur keine Realität außerhalb von Währung und Wirtschaft hat und nie hatte, sondern heute auf ein Phantom reduziert ist, das de facto vollständig den militärischen Interessen einer ihm fremden Macht unterworfen ist. Vor einiger Zeit haben wir auf Anregung von Alexandre Kojève die Gründung eines „lateinischen Reiches“ vorgeschlagen, das die drei großen lateinischen Nationen (neben Frankreich, Spanien und Italien) im Einvernehmen mit der katholischen Kirche wirtschaftlich und politisch vereinen und den Mittelmeerländern offen stehen sollte. Unabhängig davon, ob ein solcher Vorschlag heute noch aktuell ist oder nicht, möchten wir die Betroffenen darauf aufmerksam machen, dass, wenn so etwas wie Europa eine autonome politische Realität erlangen soll, dies nur durch die Schaffung eines europäischen Imperiums möglich sein wird, ähnlich dem österreichisch-ungarischen Reich oder dem Imperium, das Dante in “De monarchia” als einheitliches Prinzip verstand, das die einzelnen Königreiche auf den Frieden als „Endziel“ hin ausrichten sollte.

Es ist also möglich, dass in der extremen Situation, in der wir uns befinden, gerade die politischen Modelle, die als völlig überholt gelten, wieder unerwartete Aktualität erlangen. Dazu müssten die Bürgerinnen und Bürger der europäischen Nationalstaaten aber wieder eine so starke Bindung an ihre eigenen Orte und ihre eigenen kulturellen Traditionen entdecken, dass sie ihre Staatsbürgerschaften vorbehaltlos abschaffen und durch eine einzige europäische Staatsbürgerschaft ersetzen könnten, die nicht in einem Parlament und in Kommissionen, sondern in einer symbolischen Macht verkörpert ist, die dem Heiligen Römischen Reich ähnelt. Die Frage, ob ein solches europäisches Imperium möglich ist oder nicht, interessiert uns nicht und entspricht auch nicht unseren Idealen, erhält aber eine besondere Bedeutung, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass die heutige europäische Gemeinschaft keine wirkliche politische Substanz hat und sich im Grunde genommen, wie alle ihre Mitgliedsstaaten, in einen kranken Organismus verwandelt hat, der mehr oder weniger bewusst auf seine eigene Selbstzerstörung zusteuert.


Quelle: https://www.quodlibet.it/giorgio-agamben-l-u2019impero-europeo