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Über die heutige Anarchie

Ein Beitrag von Giorgio Agamben:

Wenn die Anarchie für diejenigen, die über Politik nachdenken wollen, die in gewisser Weise den extremen Brennpunkt oder Fluchtpunkt darstellt, nie an Aktualität verloren hat, so ist sie es heute auch wegen der ungerechten und grausamen Verfolgung, der ein Anarchist in den italienischen Gefängnissen ausgesetzt ist. Von Anarchie auf der Ebene des Rechts zu sprechen, wie man es tun musste, impliziert jedoch notwendigerweise ein Paradoxon, denn es ist zumindest widersprüchlich zu fordern, dass der Staat das Recht, den Staat zu verweigern, anerkennt, ebenso wie man, wenn man das Widerstandsrecht bis zur letzten Konsequenz durchsetzen will, nicht vernünftigerweise fordern kann, dass die Möglichkeit eines Bürgerkriegs rechtlich geschützt wird.

Um den Anarchismus heute zu denken, ist es daher angebracht, sich in eine ganz andere Perspektive zu versetzen und eher die Art und Weise zu hinterfragen, wie Engels ihn konzipiert hat, als er den Anarchisten vorwarf, die Verwaltung an die Stelle des Staates setzen zu wollen. In diesem Vorwurf liegt in der Tat ein entscheidendes politisches Problem, das weder die Marxisten noch vielleicht die Anarchisten selbst richtig gestellt haben. Ein Problem, das umso dringlicher ist, als wir heute den Versuch erleben, auf parodistische Weise das zu verwirklichen, was für Engels das erklärte Ziel der Anarchie war, nämlich nicht so sehr die einfache Ersetzung des Staates durch die Verwaltung, sondern vielmehr die Identifizierung von Staat und Verwaltung in einer Art Leviathan, der die gutmütige Maske des Verwalters annimmt. Das ist es, was Sunstein und Vermeule in einem Buch (Gesetz und Leviathan, Den Verwaltungsstaat zurückerobern) theoretisieren, in dem die Verwaltung, die Ausübung der Regierung, die traditionellen Gewalten (Legislative, Exekutive, Judikative) übersteigt und kontaminiert, indem sie im Namen der Verwaltung und auf diskretionäre Weise die Funktionen und Befugnisse ausübt, die ihnen zustanden.

Was ist Verwaltung? Minister, von dem der Begriff abgeleitet ist, ist der Diener oder Helfer im Gegensatz zu Magister, dem Herrn, dem Inhaber der Macht. Das Wort leitet sich von der Wurzel *men ab, was Verkleinerung und Kleinheit bedeutet. Der Minister steht zum Magister wie Minus zum Maximus, das Weniger zum Mehr, das Kleine zum Großen, das Verkleinerte zum Größeren. Die Idee der Anarchie bestünde, zumindest nach Engels, in dem Versuch, sich einen Minister ohne Magister, einen Diener ohne Herrn vorzustellen. Sicherlich ein interessanter Versuch, denn es kann taktisch vorteilhaft sein, den Diener gegen den Herrn auszuspielen, den Geringeren gegen den Größeren, und sich eine Gesellschaft vorzustellen, in der alle Diener sind und keiner ein Magister oder Führer. Das ist es, was Hegel in gewisser Weise getan hat, indem er in seiner berüchtigten Dialektik zeigte, dass der Diener letztlich den Meister beherrscht. Es ist jedoch unbestreitbar, dass die beiden Schlüsselfiguren der westlichen Politik auf diese Weise in einer unermüdlichen Beziehung zueinander stehen, der man unmöglich ein für alle Mal auf den Grund gehen kann.

Eine radikale Idee der Anarchie kann dann nicht anders, als sich aus der unaufhörlichen Dialektik von Diener und Sklave, von Minister und Magister zu lösen, um sich entschlossen in die Kluft zu stellen, die sie trennt. Das Tertium, das in dieser Lücke auftaucht, wird weder Verwaltung noch Staat sein, weder minus noch magis: es wird vielmehr als Rest zwischen ihnen stehen und ihre Unmöglichkeit ausdrücken, zusammenzufallen. Anarchie ist also in erster Linie die radikale Ablehnung nicht so sehr des Staates oder der Verwaltung, sondern vielmehr des Anspruchs der Macht, Staat und Verwaltung in der Regierung der Menschen zusammenfallen zu lassen. Gegen diesen Anspruch kämpft der Anarchist, letztlich im Namen des Unregierbaren, das der Fluchtpunkt jeder Gemeinschaft unter den Menschen ist.

26. Februar 2023
Giorgio Agamben


Quelle: https://www.quodlibet.it/giorgio-agamben-anarchia-oggi